Die Jugend in den 90er Jahren


Aktuelle Jugendforschung und ihre Auswirkungen auf die außerschulische Jugendbildung


Wir sind anders als ihr. Wir kopieren eure Moden und Utopien, wir haben von euch gelernt, wie man sich durchwindet, durchfrißt, wir sind alle kleine Schmarotzer in euren Häusern, behütet durch dicke Polster aus Wohlstand, die angelegt wurden, weil wir es einmal besser haben sollten. Wir nehmen eure Wohnungen und euren Besitz in Anspruch, warum sollten wir noch mehr wollen, wenn wir schon alles haben; unsere Ansprüche sind groß und selbstverständlich einer Konsumgesellschaft angemessen. Wir nutzen eure Welt, aber wir verweigern das Nacheifern, wir funktionieren anders, wir sind anders konstruiert, sozialisiert, domestiziert, angeschmiert. Früher war alles anders, und deshalb kann man uns nicht mit früher vergleichen. Unsere Jugend ist anders, als eure war. Wir sind anders als ihr. Wir sind zu viele, zu verschieden, zu zersplittert, zu schillernd, zu gegensätzlich, zu unlogisch und zu abgeschottet und sektiererisch, als daß es ein großes umfassendes Wir geben könnte. Wir benutzen es trotzdem. Wir, das wechselt. (Peter König)

Bestimmung des Begriffs "Jugend"

Jugend muß als Begleitphänomen der Moderne gesehen werden. Erst mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der damit einhergehenden zeitweiligen Herauslösung einer Alterskohorte aus dem Familien- und Arbeitsleben sowie der damit verbundenen Intensivierung der Beziehungen zu Gleichaltrigen wurde Jugend als "mit gesellschaftlichen Funktionen ausgestattete Übergangszeit zwischen Kindheit einerseits und Erwachsenensein andererseits" (FERCHHOFF 1993 (a), S. 55) geschaffen.

Die historischen Wurzeln des Begriffs "Jugendlicher" liegen zum einen in der gefängnisseelsorgerischen Rettungshausbewegung des 19. Jahrhunderts, zum anderen finden sich erste Jugendkulturen bereits mit dem literarischen Schaffen junger Schriftsteller während der "Sturm und Drang"- Zeit im 18. Jahrhundert. Aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten männliche, proletarische Großstadtjugendliche mit verschiedenen Jünglingskonzeptionen vermehrt in die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Mit der "Wandervogel"- Bewegung, der ersten spezifischen Jugendbewegung, entstand auch der Begriff der Jugendkultur. Jugendliche wurden als potentielle Bedrohung, als "fortwährender Ansturm der Barbarei auf die zivilisierte Gesellschaft" wahrgenommen. Ziel aller Beschäftigung mit dem Phänomen Jugend war, naturgegebene Defizite auszugleichen und eine möglichst reibungslose Eingliederung in bestehende gesellschaftliche und kulturelle Gegebenheiten aufzuzeigen (vgl. FERCHHOFF 1993 (a), S. 21ff). Nur am Rande möchte ich hier erwähnen, daß die Beschäftigung mit Jugendkultur immer vor allem die Beschäftigung mit "Jungenkultur" war und auch heute noch vor allem männliche Jugendliche die Jugendbilder in der Öffentlichkeit prägen.

Unter Jugend kann heute zunächst einmal vieles verstanden werden: "Eine Alterskohorte; eine ontogenetische Entwicklungsphase; eine soziale Gruppe mit bestimmten auffälligen Merkmalen; eine im Rückblick häufig emotional betrachtete Phase des eigenen Lebenslaufs; eine dynamische Komponente des Menschseins, altersunabhängig verstanden als 'Jugendlichkeit' "(BAACKE 1989, S. 799).

In der Bundesrepublik Deutschland verläuft die Entwicklung vom abhängigen Kind- Sein hin zur Vollmündigkeit des Erwachsenen offiziell in Stufen ab, die an das biologische Alter gebunden sind: Bereits mit 10 bis 12 Jahren erlangt man Religionsmündigkeit; mit 13 Jahren die Strafmündigkeit gemäß dem Jugendstrafrecht; mit 16 Jahren die Ehemündigkeit, begrenztes Ausgangsrecht ohne Begleitung, sowie das Recht auf Erwerb einer Fahrerlaubnis für Mofas (Führerschein der Klasse 1a); mit 18 Jahren die unbeschränkte Geschäftsfähigkeit, die volle Ehefähigkeit, aktives und passives Wahlrecht auf öffentlich- politischer Ebene, Filmmündigkeit, das Recht auf Erwerb einer unbegrenzten Fahrerlaubnis (Führerschein der Klassen 1 und 3), Wehrpflichtalter (für Männer), sowie das Ende des Jugendarbeitsschutzes; mit 21 Jahren die volle Strafmündigkeit; mit 25 Jahren das Recht, selbst ein Kind anzunehmen; mit 27 Jahren endet das Recht auf Ausbildungszuschüsse der Eltern; mit 35 Jahren endet die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen von politischen Parteien und erst mit 40 Jahren endet die Mitgliedschaft in Jugendorganisationen der "jungen Unternehmer".

Irgendwo zwischen diesen Rechtsgrenzen ist die Phase der Jugend anzusiedeln. Nach der Shell- Studie lebten 1991 insgesamt 18,1 Millionen 13- bis 29jährige Personen, davon 11,3 Millionen zwischen 13 und 24, sowie 6,8 Millionen zwischen 25 und 29 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland (SHELL- JUGENDSTUDIE 1992a, S. 21). Diese Personengruppe ist Gegenstand meiner hier vorliegenden Diplomarbeit.

Die Jugendphase ist für die Jugendlichen subjektiv durch körperliche und geistige Reifungsprozesse, sowie zunehmend durch einen (tendenziell verlängerten) Schulbesuch und den damit verbundenen starken Kontakt zu Gleichaltrigen- Gruppen geprägt. Diese Standardisierung der Lebensläufe hat zur Herausbildung von "Normalbiographien" geführt. Die Jugendphase findet ihren Anfang mit der Pubertät und findet traditionell ihren Abschluß in der beruflichen und familiären Selbständigkeit.

Während dieser Zeit müssen Jugendliche von der Gesellschaft vorgegebene Entwicklungs-/ Handlungsaufgaben bewältigen, welche im folgenden in Anlehnung an HAVIGHURST (1972) und DREHER / DREHER (1985) beschrieben werden sollen: - Kennenlernen der eigenen Körperlichkeit und Erlernen ihrer effektiveren Nutzung; - Erwerb der Geschlechterrollen in Auseinandersetzung mit Erwartungen von Eltern, Peers und den eigenen Vorstellungen; - Ausbau und Intensivierung von Gleichaltrigenbeziehungen; - Emotionale und letztlich auch finanzielle Loslösung vom Elternhaus und Hinwendung zu außerfamiliären Peergroups; - Qualifizierung für eigenverantwortete Berufswahl; - Beginn der Suche nach einem/-r LebenspartnerIn (oder der nach einem alternativem Modell) zur Vorbereitung auf das spätere Familien- (bzw. Single-) Leben; - Erlernen und Erproben von sozial verantwortungsvollem Verhalten; - Aufbau eines eigenen Werte- und Normensystems, einem ethischen Bewußtsein, das bei der Planung des eigenen Lebenslaufs als Richtschnur dienen kann (vgl. HAVINGHURST 1972); - Aufbau eines stabilen Selbstkonzepts und eines eigenen Lebensplans (vgl. DREHER / DREHER 1985).

Solche Handlungsaufgaben haben das Bild vor Augen, Jugendliche möglichst reibungslos in vorgefundene, eingefahrene Bahnen lenken zu müssen. Integration ist, bei aller zugestandenen Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit, oberste Priorität. Die Begründung dieser traditionellen Entwicklungsaufgaben beruht auch auf den psychologischen Theorien von den Entwicklungsphasen der Pubertät, der Adoleszenz, die ich nun im folgenden kurz darlegen möchte. Dabei wird auch deutlich werden, daß die vorher formulierte Klarheit der Anforderungen in den 90er Jahren an Konturen verliert. Mit der "psychosexuellen Phase" der Pubertät ist gemäß Erikson die Anforderung nach Gewinnung der eigenen psychosozialen Identität verbunden. Sie umfaßt die Balance von persönlicher Kohärenz und Rollenintegration, von eigenen Leitbildern und gesellschaftlichen Leitideologien und von persönlicher Lebensgeschichte und historischer Rahmung mit der Gefahr des Mißlingens und einer damit verbundenen Identitätskrise (vgl. ERIKSON 1977, S.19). Erikson billigt dem Jugendlichen in der Adoleszenz ein "Moratorium" zu, also einen Zeitraum, in dem er Verhaltensweisen ausprobieren, Rollen probeweise übernehmen, mit ihnen experimentieren und diese wieder wechseln und so seinen Platz in der Gesellschaft finden kann (vgl. ERIKSON 1977, S.206). Heute muß man, wie im nächsten Kapitel aufgezeigt werden wird, allerdings konstatieren, daß das von Erikson als Chance zur Entwicklung gemeinte Moratorium für viele Jugendliche durch verzögerten Eintritt in das Erwerbsleben (vorübergehende Arbeitslosigkeit, "Parkstudium" oder die eigenen Arbeitsmarktchancen verbessernde Zusatzqualifizierung) unfreiwillig verlängert wird und so seine potentiellen Risiken der Identitätsdiffusiuon sich potenzieren. In den 90er Jahren ist eine zweifache Ausdehnung der Lebensphase Jugend zu beobachten, denn Längenwachstumsschübe, Gewichtszunahme und genitale Reifung haben sich im Vergleich zum 19. Jahrhundert um mehrere Jahre vorverlagert und auch die psychosoziale Loslösung von den primären Bezugspersonen hin zu den gleichaltrigen Peer- Groups setzt tendentiell immer früher ein (vgl. FERCHHOFF 1993 (a), S. 56-57). Auf der anderen Seite weichen die traditionellen, klaren Übergänge, verbunden mit der Gleichzeitigkeit von Schulabschluß, Eintritt in die Erwerbstätigkeit, Auszug aus dem Elternhaus, Schließung einer Ehe und Gründung einer Familie zunehmend auf, entstrukturieren und differenzieren sich. Es ist ein Trend festzustellen, hin zu einer " soziokulturellen Verselbständigung der Jugendlichen in jüngeren Lebensjahren und andererseits einem durch Verlängerung der Ausbildungszeit und Verkomplizierung der Übergänge aus dem Bildungswesen in stabile Beschäftigung hervorgerufenen späteren Erreichen der ökonomischen Selbständigkeit" (MÜNCHMEIER 1994, S. 118). Diese Auseinanderentwicklung von Schulabschluß und Berufseinmündung führt zum Phänomen der sogenannten Postadoleszenz: Junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren sind politisch, kulturell und sozial selbständig, ohne jedoch über eigenständige Ressourcen zur Lebenssicherung zu verfügen" (BAACKE 1989, S. 806). Die oben beschriebenen, gesellschaftlich vordefinierten Entwicklungsaufgaben verfehlen demnach viele Jugendliche heute aufgrund ungünstiger vorgefundener Rahmenbedingungen und gesellschaftlichem Wandel. Treffender ist es wohl, davon zu sprechen, daß Jugendliche in den 90ern Entwicklungsaufgaben stärker individuell aushandeln, da sich Normalitätsvorstellungen auf breiter Basis pluralisieren. Damit dehnt sich das Ende der Jugendphase in den 90er Jahren immer weiter aus und nimmt die Gestalt einer eigenständigen Lebensphase mit eigenständigen Lebensstilen und "eigener Konsumkultur" (CARLBERG 1992, S. 95) an. Um die nähere Beschreibung und zeitgemäße Analyse dieser Lebensphase Jugend soll es im Hauptteil gehen.


Rahmenbedingungen des Aufwachsens in den 90er Jahren

Im zweiten Teil der thematischen Einleitung stelle ich nun in konzentrierter Form die wichtigsten Entwicklungslinien der Modernisierung der Industriegesellschaft in Deutschland dar, auf denen die im Hauptteil folgenden Theorien argumentativ basieren. In der Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften läßt sich seit Mitte der 80er Jahre ein tiefgreifender sozialer Wandel feststellen, der von jedem Individuum und jeder Institution verstärkte Integrationsleistungen zu dessen Bewältigung verlangt. Hier liegt auch eine Herausforderung für die Jugendbildung, jenen Jugendlichen zu helfen, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden, die von der rasanten Entwicklung überfordert werden. Orientierungslosigkeit, Vereinzelung und Massenarbeitslosigkeit sind nur einige der Kehrseiten des sozialen Wandels, mit denen sich heutige Jugendliche wie kaum eine Generation vor ihnen konfrontiert sehen. In Anlehnung an KLAWE (1990, S. 107-110) lassen sich folgende Grundlinien gegenwärtiger sozialer Wandlungsprozesse beobachten:

Verlängerte Schul- und Ausbildungszeiten

Es ist ein klarer Trend zu gehobeneren Bildungsabschlüssen (mittlere Reife, Fachabitur, Abitur, Studienabschlüsse) zu verzeichnen. "Jugendliche Anfang der 90er Jahre zeichneten sich im Vergleich zu Vorgängergenerationen vor allem durch ein hohes Bildungsniveau aus" (KRAMER 1993, S.295). So besaßen 1992 rund 36 % der SchulabgängerInnen eine Studienberechtigung (1980: 19,4 %) und 1991 gab es in Deutschland erstmals mehr Studenten (rund 1,6 Millionen) als Auszubildende (rund 1,5 Millionen). Das kann so ausgelegt werden, daß Jugendliche heute einen hohen Allgemeinbildungsstand anstreben und sich so relativ lange viele Möglichkeiten im Berufsleben offenhalten. Nun ergibt sich daraus aber auch eine immer größere Anzahl an Personen mit qualifizierten Abschlüssen, die auf dem Arbeitsmarkt um gehobenere Posten konkurrieren. BildungsforscherInnen sehen "in der massenhaften Enttäuschung der Berufswünsche ein Konfliktpotential" (KRAMER 1992, S. 295). Diese Entwicklung impliziert eine Abwertung der inflationär erworbenen hohen Bildungsabschlüsse , aber durch die damit verbundene Standartisierung höherer Bildungsabschlüsse auch eine Verdrängung von Personen ohne oder mit nur geringen Bildungsabschlüssen vom Arbeitsmarkt. Neben Mobilität und Flexibilität gewinnen Zusatzqualifikationen an Bedeutung, wodurch sich eine weitere Verlängerung der Ausbildungszeit ergibt. Während dieser verlängerten Ausbildungszeit bleiben die Jugendlichen zum einen noch finanziell abhängig von ihren Eltern, lösen sich jedoch emotional schon vom Elternhaus. Zu der früheren emotionalen Lösung und der Herausbildung eigenständiger Lebensstile trägt auch die wachsende Bedeutung der Freizeit bei, die der expandierenden Gruppe jugendlicher SchülerInnen aufgrund der längeren Verweildauer in der Schule (in der die Heranwachsenden nur halbtags institutionell erfaßt werden) zur Verfügung steht (vgl. MÜNCHMEIER 1994, S. 118). Dennoch machen Jugendliche heute in größerem Umfang schon früher Bekanntschaft mit der Arbeitswelt. Der Spiegel beruft sich auf Angaben von Gewerbeaufsichtsämtern und Sozialministerien, wenn er rekonstruiert, daß rund 40 % der 14- bis 16jährigen in Deutschland mehr oder weniger regelmäßig einer entlohnten Nebenbeschäftigung nachgehen. Zählt man die Zeit, die für Schule, Hausaufgaben und Job verwendet wird, zusammen, so kommt man nahezu auf eine 50- Stunden- Woche der SchülerInnen (vgl. LAKOTTA 1995 a, S. 106). Das Geld wird, der Untersuchung zufolge, meistens verwendet, um den gestiegenen Bedarf an jugendkulturspezifischen Freizeitaktivitäten (Musikkonzerte, Discos, Kneipenbesuche etc.) und an Statussymbolen (Markenjeans und -turnschuhe, Videospiele, CDs etc.) zu finanzieren. In 13,4 % aller Fälle mußten die Jugendlichen aber auch arbeiten, um die Auswirkungen der "Neuen Armut" in ihrer Familie aufzufangen. Zusammen mit dem verzögerten Eintritt in die Berufswelt durch verbreitete Jugendarbeitslosigkeit und Zusatzqualifizierungs - Warteschleifen verliert der Bruch zwischen Schul- und Berufsleben an Konturen.

Strukturwandel durch technologische Entwicklung

Mit einem Arbeitsplatzschwund im industriellen Sektor gehen für Jugendliche zwei wichtige Trends einher: Zum einen werden für den Berufseintritt immer höhere Qualifikationen verlangt, was mit einer durchschnittlich statistisch verlängerten Schullaufbahn korrespondiert, zum anderen wird es für Jugendliche immer wahrscheinlicher, daß sie zumindest einmal in ihrem Leben selbst von unfreiwilligem (oder freiwilligem) Arbeitsplatzwechsel mit vorübergehender Arbeitslosigkeit betroffen sein werden. Ein gesicherter, lebenslanger Arbeitsplatz wird für heutige Jugendliche eher die Ausnahme bilden. Ein frühes einseitiges Festlegen auf nur eine, eng umrissene Profession ist heute mit immer höheren Risiken der Arbeitslosigkeit belastet. Statt dessen wird von heutigen ArbeitnehmerInnen vor allem Mobilität und Flexibilität bezüglich ihres Berufswunsches zu einer Schlüsselqualifikation. Es ist klüger, sich länger mehrere Möglichkeiten offenzuhalten. Dieser Trend führt zu einer zunehmenden Entstandartisierung und Individualisierung von Berufsbiographien. Heutige Jugendliche müssen lernen, mit den gewachsenen Unsicherheiten des Berufslebens zu leben.

Trotz der dem Trend entgegenstehenden fortschreitenden Ausdifferenzierung des Dienstleistungs-, Unterhaltungs- und Freizeitsektors, wo neue Arbeitsplätze entstehen, werden derzeit viele Arbeitskräfte im Zuge des Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt freigesetzt. Arbeitslosigkeit wird vermehrt zu einer alltäglichen Erfahrung größerer Bevölkerungsgruppen. Sie betrifft keineswegs nur noch niedrig qualifizierte Arbeitnehmer mit niedrigem oder keinem Bildungsabschluß, auch wenn diese auf dem Arbeitsmarkt immer geringere Beschäftigungschancen haben.

Demographische Veränderungen

In der Bundesrepublik ist eine Tendenz zur Überalterung aufgrund zurückgehender Geburtenraten bei gleichzeitiger Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung zu konstatieren. Immer weniger Jugendliche stehen immer mehr alten Menschen gegenüber. Und beide Gruppen werden von einer immer kleiner werdenden Gruppe der arbeitenden Bevölkerung versorgt. "Nach einer Modellrechnung des statistischen Bundesamtes wird die Zahl der 10- bis 15jährigen zwischen 1985 und 2000 nur um 300.000 sinken und sich bei etwa 2,7 Millionen einpendeln. Aber im Altersbereich von 15 bis 20 Jahren wird ein Rückgang um fast 2 Mill. (von 4,6 auf 2,7 Mill.) zu verzeichnen sein. Ähnlich große rückläufige Zahlen werden für die Altersgruppe der 20- bis 25jährigen erwartet (von 4,6 auf 2,7 Millionen)" (MÜNCHMEIER, 1992, S. 41). Jugend wird so zum knappen Gut. Die Arbeitsplatzprobleme heutiger Jugendlicher löst dieser Trend aber noch nicht, auch wenn in Zukunft nahezu alle Jugendlichen in Deutschland auf dem Stellenmarkt benötigt werden.

Unter den jungen Menschen sind außerdem anteilig immer mehr Bürger ohne deutsche Staatsangehörigkeit zu finden. Zwar ist der Anteil der deutschen Bevölkerung in Deutschland mit bundesweit 92,7 % (HARENBERG, 1994) sehr hoch, doch setzt sich der Trend zur "Ein- Kind- Familie" in ausländischen Familien nicht so durch wie in deutschen. In München stieg beispielsweise der Anteil der Ausländer an der jugendlichen Bevölkerung einer Prognose zufolge zwischen 1985 und 1990 bei den 16- bis 20jährigen von 18 % auf 40,1 % und bei den 21- bis 24jährigen von 15,4 % auf 36,7 % (GRAF / BENDIT 1988).

Diese, vor allem in Großstädten zu beobachtende Entwicklung läßt die Forderung nach "Integration" der "Minderheit" ausländischer Mitbürger in ganz neuem Licht erscheinen und stellt zumindest eine große kulturelle Herausforderung an die Zukunft dar. Diese Trends fordern die Bereitschaft zur Toleranz und Solidarität in der Gesellschaft heraus, die aber noch hinter den Anforderungen der Zeit zurückbleibt.

Werte- Wandel und Werteerosion

Der oben skizzierte Strukturwandel beschleunigt den Wandel von einem allgemeinverbindlichen hin zu einem subkulturell differenzierten Wertesystem, in dem "gesellschaftliche Teilbereiche ... unabhängig voneinander eigene subkulturelle Wertorientierungen" ausbilden (KLAWE 1990, S.108).

Wichtige Ebenen des Wertewandels sind nach KLAWE (1990, S. 108-111):

  • Verändertes Umweltbewußtsein:
    Die Risiken, die eine primär auf Expansion bedachte industrielle Entwicklung für die Umwelt und damit auch für den einzelnen mit sich bringen, werden zunehmend erkannt und der Wert des industriellen Wachstums damit kritisch gesehen (vgl. KLAWE 1990, S.108). Für die heutigen Jugendlichen ist das Thema "Umweltschutz" nach der IBM- Studie '92 das wichtigste politische Zukunftsthema.

  • Sinkende Wissenschaftsgläubigkeit:
    Mit der Verbreitung von Bio- und Gentechnologie wurde in der Bevölkerung ein Bewußtsein für die Notwendigkeit sozialethischer Begründungen wissenschaftlichen Handelns und politischer Kontrolle der wissenschaftlichen Forschung geweckt (vgl. HUFER 1990, S.106). Die negativen Auswirkungen der hochentwickelten Wissenschaft waren den Menschen noch nie so bewußt wie heute. Andererseits sind sie aber abhängig von der Wissenschaft, da diese auch das Monopol für die Lösungen besitzt. Dieses Paradoxon, auf das ich im Rahmen der Risikogesellschaft (BECK 1986) noch näher eingehen werde, wirkt auf viele Menschen lähmend. Auch diese Lähmung bedingt (wenn auch oft nicht bewußt) die weiter fortschreitende Konsumkultur in weiten Teilen der Bevölkerung und verhindert einen konsequenten und tiefgreifenden Wandel des Wirtschaftssystems.

  • Veränderung des Leistungsbegriffs:
    Leistung und Arbeit sind nicht mehr Selbstzweck, sondern werden an Maßstäben gemessen, "die Selbstverwirklichung durch Verantwortung und gegenseitige Kommunikation betonen" (KLAWE 1990, S.108).

  • Werteverlagerung:
    Mit dem sinkenden Einfluß der Kirchen auf politische und gesellschaftliche Entscheidungen verlieren auch die kirchlichen Werte und Moralvorstellungen an Bedeutung. Doch die Pluralisierung der Wertvorstel-lungen bringt eine Werteverlagerung mit "Tendenz zur Subjektivierung" und eine damit verbundene "Kultivierung der Ich- Bezogenheit" mit sich (vgl. HUFER 1990, S.106-107). Der Trend zum pluralen Nebeneinander verschiedener Werte stellt den einzel-nen verstärkt vor die Aufgabe der Auswahl zwischen vielfältigen legitimen Lebensmustern. Die verschiedenen Lebensmuster äußern sich im Alltag im Nebeneinander einer mannigfaltigen Anzahl von Konsumstilen. Diese Entwicklung setzt sich im pluralen Nebeneinander verschiedener Erziehungsstile in variantenreicheren Familienkonstellationen fort, auf das ich im Folgenden noch eingehen werde.
    Das noch in den fünfziger Jahren mit 25 % meistverbreitete Erziehungsziel "Gehorsam und Unterordnung" ist allerdings mittlerweile nur noch für 9 % der Eltern handlungsleitend. Es wurde durch "Selbständigkeit und freier Wille" abgelöst, was 1983 49 % der Eltern in einer Emnid- Umfrage als wichtigstes Erziehungsziel nannten. Die Pluralisierung und Differenzierung von Werten wird oft in Zusammenhang gebracht mit der Zunahme von brutalen Gewalttätigkeiten von Jugendlichen. Der beobachtbare "Verfall christlicher Grundwerte" führt, ModernisierungskritikerInnen zufolge, zu einer Herabsetzung der Hemmschwelle bei der Anwendung von Gewalt und zunehmender Brutalität bei GewaltanwenderInnen. Nach Spiegel - Informationen brachte jeder vierte Bochumer Schüler selbst schon einmal eine Waffe mit in die Schule, da er sich bedroht fühlte. KLAUS HURRELMANN wird zitiert, 15 % eines Jahrganges müßten mittlerweile als 'gewaltbereit' und 3 % als 'zu extremer Gewalt bereit' eingestuft werden (vgl. LAKOTTA 1995 (b), S. 95). Bei den meisten GewalttäterInnen greift jedoch dieser moralisierende Erklärungsversuch zu kurz. Erst das Zusammenspiel vieler gewaltbegünstigender Faktoren wie Verwahrlosung oder Überfürsorge, Versagensängste, unklare Familienverhältnisse (Arbeitslosigkeit der Eltern, Scheidung), Gewalterfahrung in der Familie führt mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Gewalttätigkeit bei einigen Jugendlichen. Die überwältigende Mehrheit der heutigen Jugendlichen hat aber weiterhin recht traditionelle Moralvorstellungen und lehnt Gewalttätigkeit zur Problemlösung entschieden ab.

  • Mediatisierung des Alltags:
    Medien jeglicher Form halten Einzug in immer mehr Bereiche des täglichen Lebens. Neben den klassischen Printmedien (Tageszeitungen, Zeitschriften, Bücher) haben sich Audiomedien (Hörfunk, Telefon, Stereoanlage) und audiovisuelle Medien (Kino, Fernsehen, Video) etabliert und fast maximale Reichweite erreicht. Auch der Computer ist mittlerweile als Standartgerät an vielen Arbeitsplätzen und in fast jedem Haushalt zu finden. Die interaktive Kopplung dieser Medien zu Multimedia- Stationen, in die Computer, Telefon, Faxgerät, Fernseher, CD-Player für Audio- und Video-CD's integriert sind und die darüberhinaus durch einen Internet - Anschluß Zugang zu weltweiten Datennetzen haben, schreitet mit rasanter Geschwindigkeit voran. Bereits heute kann fast jede/-r HochschulstudentIn in Deutschland das Internet nutzen. Aufgrund der relativ hohen Verbreitungsdichte medienvermittelter Informationen kommt es zu einer Normierung und Standartisierung von Erfahrungswelten im kollektiven Bewußtsein der Bevölkerung. Der Grundlevel von allen zugänglichen (und bekannten) Informationen steigt an. Aufgrund unterschiedlicher Gewohnheiten der Fernsehnutzung kann jedoch nicht von einer egalisierenden Wirkung des Fernsehens bezüglich des Bildungsstandes seiner KonsumentInnen ausgegangen werden. Welche weiteren Nutzen und Risiken mit dieser Entwicklung verbunden sind, ist unter WissenschaftlerInnen sehr umstritten. Bezüglich der Zielgruppe dieser Diplomarbeit ist es noch wichtig anzumerken, daß Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren am wenigsten von allen Altersgruppen fernsehen. Abels vertritt dabei die These, daß bereits Kinder im Fernsehen 'typische Lösungen' für Alltagsprobleme und damit Handlungsmuster vermittelt bekommen, die sie anschließend zur Durchsetzung eigener Ansprüche gegenüber ihren Eltern nutzen. Wenn sie sich in der Jugendphase der Peergroup zuwenden, ist der eben beschriebene Lernprozeß abgeschlossen (vgl. ABELS 1993, S. 550-551).

  • Veränderungen von Einstellungen und Formen politischen Engagements:
    Jugendliche sind heute besser und umfassender informiert als alle Jugendgenerationen vor ihnen. Dies ist auf die verlängerte durchschnittliche Schulbesuchszeit und auf den umfassenden Medienkonsum zurückzuführen. Auch das politische Interesse ist bei Jugendlichen heute im internationalen und historischen Vergleich sehr hoch.
    Lediglich die Formen politischen Engagements heutiger Jugendlicher passen nicht in gängige Politikkonzepte, sie sind unverbindlicher, spon-taner und auf kleinere soziale Räume beschränkt. Im Zuge neuer sozialer Bewegungen entstanden vielfältige Alternativen zu parteipolitischer Bindung, wie Bürgerinitiativen, Nachbarschafts- und Selbsthilfegruppen. Sie betonen neben dem sachorientiert- politischen auch den individuellen Wert (Betroffenheit, Gefühlswelt,...) für ihre Mitglieder (vgl. KLAWE 1990, S.108-109). Für heutige Jugendliche ist aber auch das Sich- Binden an Neue Soziale Bewegungen, die sie nach eigenem Bekunden für sehr wichtig halten, keine zeitgemäße politische Beteiligungsform mehr. Auch "Greenpeace" und "die Grünen" sind mit einem Durchschnittsalter von über 35 Jahren keine Repräsentanten der jungen Generation mehr, sondern der mittleren (vgl. LEGGEWIE 1995, S. 249).
    Aus den vorangegangenen Ausführungen kann man ersehen, daß viele Menschen sich schnell als an eigenen Problemen nur noch peripher beteiligter Spielball der großen Politik fühlen können."Man entwickelt ein dichotomes Weltbild... und verzichtet auf eigenes Engagement und die Vertretung eigener Interessen" (KLAWE 1990, S.110-111). "Wo Politikstrukturen und Risikofaktoren der nachindustriellen Gesellschaft bedrohlich erscheinen und (Versagens-) Ängste auslösen, wird die Auseinandersetzung vermieden" (KLAWE 1990, S.111). "Dies führt zu Politikverdrossenheit und der Flucht in die Konsum- und Freizeitwelt als Gegenpol oder zur Suche nach vereinfachenden Weltbildern (etwa einem betonten Nationalismus oder Rassismus)" (vgl. KLAWE 1990, S. 111). Eine Umfrage der Universität Bielefeld in Sachsen ergab 1993, daß sich rund 54 % der 15- bis 18jährigen Ostdeutschen von keiner politischen Partei vertreten fühlten (1990: 33,6 %) (vgl. KRAMER 1993, S. 295). Doch Politikverdrossenheit ist keinesfalls ein reines Problem der Ostdeutschen, sondern durchzieht die ganze Gesellschaft. Im September 1995 vermeldet der "Jugendkompaß Niedersachsen", daß sich nur noch 25 % der befragten Jugendlichen überhaupt für Bundespolitik interessierten, gar nur 9 % für die Gemeindepolitik. Die "Partei der Nichtwähler" wäre bei fast jeder Wahl in den 90er Jahren größte Fraktion geworden, woraus man schließen kann, daß Politikverdrossenheit nicht nur junge Menschen erfaßt hat.

  • "Veränderung männlichen / weiblichen Rollenverhaltens:
    Traditionelle Rollenmuster werden im Zuge der fortschreitenden Emanzipation von Frauen (und Männern) aufgeweicht. "Im Umgang miteinander treten neben die überlieferten männlichen Normen (Konkurrenzkampf, Machtdenken, bürokratische Strukturen, Durchsetzungsvermögen,...) zunehmend (auch) weibliche Orientierungen: Gefühl, Ganzheitlichkeit, Körperlichkeit und Offenheit" (KLAWE 1990, S.109) werden so ins Repertoire aller aufgenommen.

  • Verschwinden der "Normalfamilie":
    Mit dem Einflußverlust von Kirche und der zunehmenden Individualisierung von Lebenswegen geht eine Pluralisierung der Familienstruktur der deutschen Gesellschaft einher. Die traditionelle Kernfamilie als Sozialisationsinstanz kann nicht mehr als Norm angenommen werden. Berufstätigkeit beider Elternteile, aber auch Massenarbeitslosigkeit und damit verbundene Untätigkeit beider Elternteile paßten früher ebensowenig ins Bild, wie Einelternfamilien (bedingt durch Scheidung) oder Wochenendfamilien", bei denen ein berufstätiger Elternteil nur am Wochenende vom auswärtigen Arbeitsplatz zur Familie anreist. Diese Ausnahmen sind mittlerweile jedoch schon vielerorts zur Regel geworden. Ein demographischer Trend hin zur "Ein- Kind- Familie" ist unübersehbar, z.Zt. hat jedes Paar statistisch 1,4 Kinder. "Jedes dritte Kind wächst ohne Geschwister auf, jede dritte Ehe wird geschieden, jede vierte junge Mutter ist alleinerziehend (FOCUS 33 / 1994, zit. nach LEGGEWIE 1995, S. 201). Somit lösen sich aber auch Räume primärer Sozialisation (Geschwister- Beziehungen, aber auch verwandtschaftliche Netzwerke mit Cousinen, Tanten und Onkeln) tendentiell weiter auf, so daß Gleichaltrigenkontakte außerhalb der Familie weiter an Bedeutung gewinnen. Dem entgegen stehen die wachsenden Erwartungen der Eltern an ihr einziges Kind, das mit emotionalen, aber auch sozialen Aufstiegswünschen überladen zu werden droht, ohne dabei auf Entlastungsmöglichkeiten durch Geschwister zurückgreifen zu können


Zusammenfassung der Erkenntnisse über die Jugend in den 90er Jahren:

Der Abschnitt faßt als Ergebnis meiner Untersuchung die gesicherten Erkenntnisse über die Jugend der 90er Jahre zusammen.
In den 90er Jahren scheint sich die von BECK 1986 prophezeite "Verfassensänderung der Lebensführung" durchgesetzt zu haben. Besonders unter Jugendlichen können auch Frau Wörsdörfer und Herr Hafemann beobachten, daß die Zukunft von diesen allgemein als unberechenbar und offen angesehen wird. Die derzeitige Politik in Deutschland ist nicht imstande, den politisch im Vergleich zu früheren Alterskohorten gut informierten Jugendlichen Perspektiven aufzeigen. Zwar ist, wie SCHULZE betont, das Überleben in Deutschland sozialstaatlich abgesichert, doch streben die Menschen infolgedessen danach, ein eigenes "Projekt des schönen Lebens" zu realisieren. SCHULZE spricht in diesem Zusammenhang von einer innengerichteten Modernisierung. Das spricht nicht dagegen, daß alle in meine Untersuchung eingebundenen PädagogInnen sich darin einig sind, daß derzeit die soziale Ungleichheit zu Ungunsten der Berufsperspektiven der jüngeren Menschen wieder stark zunimmt. PolitikerInnen gehen derzeit weder auf den Perspektivenwandel noch auf die Interessen der sich demographisch verknappenden Jugend ein. All meine InterviewpartnerInnen bestätigen daher, daß das zu einer allgemeinen PolitikerInnen- und Parteienverdrossenheit unter Jugendlichen führt. Die These LEGGEWIES, daß daraus keineswegs auf eine allgemeine Politikverdrossenheit unter Jugendlichen geschlossen werden kann, bestätigt der im politischen Bildungsbereich tätige Peter Schmitt. Herr Hafemann und Frau Wörsdörfer erleben Jugendliche dagegen in ihren, eher unpolitischen Arbeitsfeldern als relativ politikfern.
Dies kann auch als Beleg für BECKS These angesehen werde, daß Jugendliche heute in der Regel über verschiedene soziale Identitäten verfügen, die sie entsprechend des sozialen Settings aktualisieren. Frau Wörsdörfer bestätigt, daß sie bei Jugendlichen feststellt, daß deren zentrale Lebensaufgabe darin besteht, die Integration von optionalen Teilzeitaktivitäten und -identitäten in ein eigenes Lebenskonzept zu schaffen. Das Schülerforums nimmt in seiner Arbeit dieses, jugendspezifische Problem auf.
Ein eindeutiger Trend, der auf den vorangegangenen Überlegungen aufbaut und den alle TheoretikerInnen und PraktikerInnen bestätigten ist, daß Jugendliche stärker im Hier und Jetzt leben. Aus diesem Trend erklärt sich auch, daß sie zu lebensgeschichtlich früheren Zeitpunkten biographische Entscheidungen treffen. Heutige Heranwachsende sind, laut SCHULZE, jugendlich in ihrem Habitus, aber erwachsen in ihrem Geltungsanspruch. Diese Aussage wird auch von Herrn Hafemann voll und ganz unterstützt.
SCHULZES Basistheorem, welches besagt, daß heutige Heranwachsende der aktuellen Erlebnissituation immer stärkere Bedeutung zumessen, ist nimmt diesen Gedankengang auf.

BECKS Grundannahme, daß sich Individualisierung als ein wichtiger zeitgenössischer Trend immer weiter durchsetzt, wird von den von mir interviewten PraktikerInnen ebenfalls bestätigt. Sie alle betonen, daß es eigentlich immer weniger möglich sei, heute noch von einer oder der Jugend zu sprechen, da sich jugendliche Lebensweisen inflationär vervielfältigt haben. Auch die Arbeitsmarktsituation und die schlechter werdenden Chancen für weniger gebildete Jugendliche fördern das "Einzelkämpfertum". LEGGEWIES Generationseinheit der 89er ist auch für ihn noch Utopie. So kann man festhalten, daß auch die von mir angeführten Verfechter einer Generationseinheit auf der Grundannahme aufbauen, daß es die zentrale Gemeinsamkeit der heutigen Generation sei, sich nicht etikettieren lassen zu wollen, sondern als Individuen ernstgenommen zu werden (vgl. COUPLAND 1992). SCHULZES zwei jugendliche Milieus entstanden schließlich auch auf analytischen Weg und sind objektiv gegeben, werden aber von den Betroffenen subjektiv nicht als verbindende Gemeinsamkeit wahrgenommen.

BECK führt weiter aus, daß Jugendliche heute aus traditionellen Lebenswegen herausgelöst sind. Einen zumindest theoretisch vergrößerten Möglichkeitsraum für wählbare biographische Entscheidungen bestätigen auch alle PraktikerInnen.
Jugendliche sind daher gezwungen, sich aus der wählbaren Vielfalt von Lebenssinn - Angeboten und Lebenswegen eigenständig "Bastelbiographien" zu erstellen. Dieser Sicht stimmt sowohl Frau Petra Wörsdörfer (Schülerforum) für die Zielgruppe der GymnasiastInnen uneingeschränkt zu. Herr Peter Schmitt (DGB - Jugend) und Herr Helmut Hafemenn ("bsj") schränken für die Zielgruppe der Sonder-, Haupt- und BerufsschülerInnen ein, daß sich viele Heranwachsende immer noch relativ unreflektiert traditionellen Bahnen der Ausbildungs- und Berufsbiographie folgen und das eigenständige Basteln weitestgehend auf den Freizeitbereich begrenzt ist und auch dort oft weniger ein kreativer Akt als eine Imitation medienvermittelter Vorbilder darstellt.
Auch nach BECK läßt sich Individualisierung nicht mit einem allgemeinen Zuwachs an Wahlfreiheiten gleichsetzen, sondern meint immer "Wahl unter Restriktion". Eine solche Sichtweise unterstreicht die Aussage von Herrn Schmitt, die meisten Jugendlichen hätten kaum freie Wahlmöglichkeiten bei der Berufswahl und die Vervielfältigung der Handlungsräume und -alternativen sei nur eine scheinbare. Auch COUPLAND beschreibt die Frustration seiner "Generation X", die immer wieder feststellt, daß die Zukunft bei weitem nicht so rosig ist und so viele Wahlfreiheiten bietet, wie ihr von den Medien und der Elterngeneration immer wieder vorgegaukelt wird.
SCHULZE analysierte den restriktiven Rahmen, der individuelle Wahlfreiheit einschränkt. Er führt BECKS These, daß Jugendliche ihre kollektiven Habitualisierungen immer mehr selbst aushandeln (müssen) weiter, indem er Milieus identifiziert, innerhalb derer diese Habitualisierungen nach den gleichen Modellen der Wirklichkeitsinterpretation ablaufen. Daraus läßt sich ableiten, daß sich die verschiedenen Milieus und damit auch die Älteren und Jüngeren existentiell nicht verstehen. Diese Aussage findet sich auch bei COUPLAND und LEGGEWIE.

Die Interviews mit Herrn Schmitt und Frau Wörsdörfer unterstreichen SCHULZES Annahme, Jugendliche ließen sich objektiv trotz aller oberflächlicher Vielschichtigkeit in zwei eigene, sich grundlegend von denen der älteren und voneinander unterscheidende Milieus unterteilen: Die oben erwähnten Aussagen erlauben eine Zuordnung des DGB- Klientels zu SCHULZES "Unterhaltungmilieu" und der TeilnehmerInnen an Veranstaltungen des "Schülerforums" zum "Selbsterfahrungsmilieu". Frau Wörsdörfer bestätigt, daß die GymnasiastInnen, mit denen sie arbeitet, mit einer gewissen Virtuosität an ihrer Biographie basteln und dabei danach streben, einen unverwechselbaren, individuellen Stil zu kreieren. Verschiedenartigkeit wird so zum Standart. Auf eine gewisse Hochkulturnähe bauen die Angebote des Schülerforums genauso, wie sie zunehmend in der Methodenauswahl dem jugendlichen Interesse nach außeralltäglichen Erfahrungsräumen Rechnung tragen.
COUPLANDS Theorie der Generationseinheit der "Generation X" widerspricht nur scheinbar der Theorie von SCHULZE. Wenn man genauer hinsieht, lassen sich COUPLANDS Figuren dem Selbsterfahrungsmilieu zurechnen: Sie befinden sich auf der Suche nach einem eigenen Lebensstil, den sie virtuos aus Bruchstücken zusammenbasteln und halten sich ihre Zukunft so lange wie möglich offen und verstehen ihre Elterngeneration, die nach SCHULZE anderen Milieus angehört, existentiell nicht. Daraus kann man schließen, daß COUPLANDS "Generation X" lediglich einen Ausschnitt des Selbsterfahrungsmilieus näher beschreibt. Da SCHULZE allerdings selbst feststellt, daß dieses Milieu die anderen vier kulturell dominiert, beschreibt COUPLAND einen entscheidenden Ausschnitt der heutigen Jugendlichkeit.

Die Normalitätsmodelle der Klientel des Schülerforums und von COUPLANDS "Generation X" unterscheiden sich tatsächlich in entscheidenden Punkten von denen der DGB- Jugend und des "bsj"- Klientels: Herr Schmitt bestätigt, daß er beobachten kann, daß bei jugendlichen Haupt- und BerufsschülerInnen traditionellen Rollenmuster noch stärker weiterleben.

Auch Herrn Schmitts Aussage, "seine" Jugendlichen kreierten weniger selbständig ein eigenständiges Ichprojekt, sondern kopierten vielmehr medial vorgelebte Arten der Jugendlichkeit unterstützt SCHULZES Zweiteilung der Jugend. Dieser führt dazu aus, das Selbstverwirklichungsmilieu habe durch seine starke mediale Präsenz einen prägenden Einfluß auf Habitualisierungsmechanismen des Unterhaltungmilieus. Der Erfolg der abenteuerpädagogischen Angebote des "bsj" läßt sich mit dem Ausnutzen der jugendlichen Erlebnisorientierung erklären, die beim Unterhaltungsmilieu besonders ausgeprägt ist.


Dies ist ein Auszug aus der Diplomarbeit in Erziehungswissenschaften von Kai Hirschmann (Dezember 1995)


Links zum Thema Jugend

13. Shell-Jugendstudie 2000
12. Shell-Jugendstudie '98
Jugendforschung
Jugendwelten: Selbstdarstellung von Jugendszenen
Internetarbeit in der Jugendarbeit
Jugendhilfe
Kinderrechte
Studie zu Jugend und Gewalt
Kinderinfo: Alles, was Kinder im www interessiert